Heimrevolte

„Heimrevolte – Nicht nur ‚Peter, I love you‘ oder ‚Allet scheiße'“

Auf dieser Seite sind Hintergründe und nähere Informationen zu dem Theaterstück „Heimrevolte – Nicht nur ‚Peter, I love you‘ oder ‚Allet scheiße’“ zu finden, das am 19.01.2023 im Anna-Siemsen-Hörsaal uraufgeführt wurde. Eine weitere Vorstellung fand am 24.01.23 zur selben Zeit am selben Ort statt.

Nächste Aufführungstermine:

Donnerstag, 28.9.2023 – 18:00 Uhr – Rauhes Haus, Wichern-Forum, Wichern-Schule, Horner Weg 164, 22111 Hamburg (im Rahmen der Einführungstage für die neuen Studierenden der Evangelischen Hochschule)
Für nähere Informationen siehe: https://astarauheshaus.de/theaterstueck-heimrevolte-im-wichern-forum/

Freitag, 6.10.2023 – 19 Uhr – Audimax (Von-Melle-Park 4) 
Im Kontext der Fachtagung „Wer bestimmt was und wie? Selbstorganisation und Interessenvertretung von Adressat:innen und Beschäftigten der Heimerziehung“ am 6. Oktober 2023 an der Universität Hamburg.
Für nähere Informationen siehe: https://geste-jugendhilfe.de/fachtag/

Kontakt: kontakt@heimrevolte.de

Satzung des Vereins „Heimrevolte – Demokratisches Jugendwohl e.V.“

Das Theaterstück ist das Ergebnis des dreisemestrigen Projektstudiums „Uni in gesellschaftlicher Verantwortung“ an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Uni Hamburg, das sich beginnend im Wintersemester 2021/22 mit dem Thema „Heimerziehung als pädagogisches Konfliktfeld“ auseinandergesetzt hat.

Prolog

Plakat zur Premiere des Theaterstücks

„Wenn du nicht brav bist, kommst du ins Heim“. Sätze wie dieser prägen seit Jahrzehnten die Erziehung vieler Kinder. Woher kommt es, dass diese Aussage als eine Bedrohung wahrgenommen wird? Wieso hat die Heimerziehung so einen weitverbreiteten schlechten Ruf? Mit diesen Fragen ist auch die Frage nach der Ausrichtung der Jugendhilfe insgesamt aufgeworfen: Geht es darum, Kinder und Jugendliche vor allem anzupassen oder darum, Möglichkeiten dafür zu schaffen, sich zu Persönlichkeiten zu entwickeln, die gesellschaftlich handlungsfähig sind? Diese und weitere Fragen rund um Heimerziehung als politisches und pädagogisches Konfliktfeld werden in diesem Theaterstück diskutiert und vielleicht sogar beantwortet.

Diese Auseinandersetzung ist wichtig, denn immerhin sind laut Statistischem Bundesamt
im Jahr 2021 über 122.000 Kinder und Jugendliche von Hilfen zur Erziehung in einer Form von „Heimerziehung, sonst. betreute Wohnform“ nach § 34 SGB VIII betroffen gewesen.

Entstanden ist das Stück durch uns Studierende des Projektstudiums „Uni in gesellschaftlicher
Verantwortung“ in der Fakultät Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. Seit drei Semestern setzen wir uns intensiv mit den historischen und aktuellen Konflikten rund um die Heimerziehung in Deutschland auseinander. Inspiriert von Peter Martin Lampels Stück „Revolte im Erziehungshaus“ aus dem Jahr 1928 haben wir ein eigenes Theaterstück geschrieben und inszeniert, welches einen Beitrag zur Debatte um die Ausrichtung der Heimerziehung und Pädagogik insgesamt leisten soll.

Der Titel des Stücks erinnert zum einen an den Autoren des ursprünglichen Theaterstücks und ist gleichzeitig ein Zitat aus dem Fernsehspiel „Bambule“, nach dem Drehbuch von Ulrike Meinhof, deren (journalistische) Arbeiten seit Ende der 1960er Jahre eine Vorreiterrolle in der Aufklärung der autoritären Methoden in der Fürsorgeerziehung und der strukturellen Unterdrückung von Kindern in Heimen
spielten.

Ziel unseres Theaterstücks ist es, über die Entwicklung von Heimerziehung und geschlossener (Heim-)Unterbringung aufzuklären, die bestehende Problematik sichtbar zu machen und nach Alternativen zu fragen. Denn auch heutzutage entspricht die restriktive Praxis in vielen Heimen nicht den Maßstäben von lebensweltorientierter und demokratischer Pädagogik. In diesem Sinne fragen wir: Wie
muss eine Revolte beschaffen sein, damit sie zu nachhaltigen demokratischen Veränderungen in der Heimerziehung und darüber hinaus in der Jugendhilfe führen kann?

Historischer Hintergrund:

In Heimen der Fürsorgeerziehung wurden seit jeher arme und Arbeiterkinder und -jugendliche untergebracht. Meist wurde mit besonderer Härte versucht, sie an die bürgerliche Ordnung anzupassen, etwa indem sie schwere Arbeit in der Landwirtschaft oder im Torfabbau leisten mussten. August Brandt kritisierte diese Zustände in „Gefesselte Jugend in der Zwangsfürsorgeerziehung“ (1929) scharf: „Die Fürsorgeerziehung ist in ihrer ganzen Bedeutung eine soziale und damit eine politische Angelegenheit. Sie ist eine soziale Angelegenheit, weil dieser Klassenstaat nichts tut, um die Ursachen der Verwahrlosung breiter proletarischer Kinderschichten zu verhüten […], sondern sie im Verlauf ihrer Entwicklung sich selbst überläßt, sie hungern, frieren und auch schwer arbeiten läßt, sie dem Wohnungselend mit allen seinen gesundheitlichen und sittlichen Schäden preisgibt, um dann, wenn dem Jugendlichen durch diese soziale Barbarei die Jugend zerstört wurde, ihn von Staatswegen durch Zwangserziehung zu ‚befürsorgen‘. […]“ 

Einblick in die Proben: Ausbeutung in der Fürsorgeerziehung (Foto in hoher Auflösung)

Die Heimrevolten in der Weimarer Republik, die sich gegen diese Zustände richteten, wurden in dem Theaterstück „Revolte im Erziehungshaus“ ( 1928) von Peter Martin Lampel thematisiert. Das Stück, das an die 500 Mal gespielt wurde und für große öffentliche Aufmerksamkeit sorgte [1], basiert auf seiner Hospitation in der preußischen Fürsorgeanstalt
Struveshofbei Berlin und auf den darauf aufbauenden
Studien „Jungen in Not“ (1928). Die Berichte ergaben das Bild unzureichend geleiteter, von veralteten Erziehungsvorstellungen beherrschter Erziehungsheime.
Lampel verstand die Veröffentlichung seiner Studien als kämpferischen Akt, um die in dem Bereich nur langsam anlaufenden Reformbewegungen voranzutreiben.
Im Vorwort schreibt er: „Die bürgerliche Fürsorge bedarf einer umwälzenden und schleunigsten Veränderung.“

Einblick in die Proben: Plünderung der Speisekammer (Foto in hoher Auflösung)

Nachdem in den 1960er/70er Jahren im Rahmen der „Heimkampagne“ die Situation in den Heimen der Nachkriegs-BRD scharf kritisiert worden war, kam es zu Veränderungen
in diesem Arbeitsfeld. Die Konflikte darum ziehen sich jedoch bis in die Gegenwart hinein. Auch heute noch werden Kinder und Jugendliche aus (besonders) prekären Lagen in (geschlossener) Heimerziehung untergebracht, die sich häufig durch sogenannte Stufen- und Phasenmodelle, welche einer Dressur gleichen, sowie eine zunehmende Psychiatrisierung auszeichnet. Exemplarisch dafür stehen die Heime des Jugendhilfe-Trägers Haasenburg GmbH in Brandenburg, die 2013 nach breitem öffentlichen Protest gegen die dort aufgedeckten Kinderrechtsverletzungen geschlossen werden mussten.

Ein Betroffener beschrieb im Jahr 2018 stellvertretend für viele andere die Erfahrungen, die er als Jugendlicher in einem Heim der Haasenburg GmbH machen musste, im Rahmen des „Tribunals über die Verletzung von Kinderrechten in der Heimerziehung“[2] wie folgt: „Das Leidvollste würde ich sagen, war das Eingesperrtsein und diese wirklich extreme Strenge. Das hat nichts mit normaler Strenge zu tun, wie man es mit seinen eigenen Kindern machen würde, sondern die extrem distanzierte Strenge und dieses, dieses ausgeliefert sein (. . .) gar nichts selbst entscheiden zu können, nicht mal den Toilettengang. Und diese Isolation, kein Kontakt zu den Eltern und mit den anderen Kindern, das war schon prägend.“[3]

Dutzende ehemalige Insassen der Haasenburg-Heime haben inzwischen eine Interessengemeinschaft gegründet, die darauf zielt, Entschädigungszahlungen durchzusetzen sowie dazu beizutragen, dass sich ihre Geschichte nicht wiederholt.

Konflikt um die geplante Jugendhilfeeinrichtung im Klotzenmoorstieg

Einblick in die Proben: Der „Runde Tisch Heimerziehung“ ganz anders. (Foto in hoher Auflösung)

In Hamburg ist es u.a. durch eine fachliche Bewegung von unten
(vgl. die Veranstaltung ,,Heimkarriere – Die Würde des Kindes
ist unantastbar?“ in der Markthalle im April 1980) gelungen, die
Staatsbürokratie so sehr zum Tanzen zu bringen, dass 1980 die
geschlossene Unterbringung abgeschafft werden musste. Es
folgte eine umfassendere Reform des Jugendhilfe-Systems, in
der bis Ende der 1980er Jahre diverse (pädagogische) Alternativen entwickelt wurden.[4]

Im Jahr 2003 wurde durch den CDU-Schill-Senat eine geschlossene Unterbringung für Jugendliche in der Feuerbergstraße (Hamburg-Nord) eingerichtet, die nach massiver Kritik an den dortigen Zuständen 2008 geschlossen werden musste.

Aktuell wird von der Stadt Hamburg erneut eine „hochstrukturierte“ Jugendhilfeeinrichtung geplant (für max. 16 Kinder und Jugendliche), die laut Konzept auch mit Freiheitsentzug arbeiten soll, im Stadtteil Groß Borstel am Klotzenmoorstieg. Zielgruppe sind Kinder und Jugendliche im Alter von 9-13 Jahren im Grenzbereich zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie mit „geringer Frustrationstoleranz“. Vorgesehen ist interne Beschulung und „heilende Architektur“.[5]

Die Staatsrätin der Sozialbehörde erklärte in der WELT vom 20.09.2020, es gehe darum „früher [zu] erkennen, was den Kindern fehlt und ihnen helfen zurechtzukommen“. Die taz vom 22.09.2020 berichtete unter dem Titel „Doch wieder Kinderknast“ und ließ verschiedene kritische Stimmen zu Wort kommen.

Seitdem haben sich unterschiedliche Akteure ablehnend bis kritisch geäußert. Der Alternative Wohlfahrtsverband SOAL e.V. charakterisierte im Juni 2021 die bis dato vorliegende Konzeption der Einrichtung als „überholt“ und machte konkrete Vorschläge für die Entwicklung alternativer Unterstützungssettings.[6]

Anfang des Jahres 2022 mischten sich das Aktionsbündnis gegen geschlossene Unterbringung und der AKS Hamburg mit einer breit getragenen „Stellungnahme für den Ausbau sozialräumlicher Unterstützungsangebote und gegen Ausschluss durch Einschluss und freiheitsentziehende Maßnahmen in der Jugendhilfe“ in die Debatte ein. Sie sprechen sich darin dafür aus, die für die Errichtung dieser spezialisierten Einrichtung vorgesehenen Ressourcen für den Ausbau und die Weiterentwicklung eines sozialräumlichen multiprofessionelles Hilfenetzes zu verwenden.[7]

Jugendhilfe-Einrichtungen, die mit Zwang, Einschluss und Absonderung arbeiten, haben keine rühmliche Geschichte – weder in Hamburg noch andernorts. Statt solche Ansätze neu aufzulegen, sollten die vorliegenden sozialräumlichen Alternativen weiter ausgebaut und eine an den Rechten von Kindern und Jugendlichen ausgerichtete Jugendhilfe gestaltet werden.

Weiterlesen:

• Aktionsbündnis gegen geschlossene Unterbringung: www.geschlossene-unterbringung.de
• Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit Hamburg: https://akshamburg.wordpress.com
• Verband Kinder- und Jugendarbeit Hamburg e.V.: https://www.vkjhh.de

Rückblick auf das Projektstudium „Heimerziehung als pädagogisches Konfliktfeld“ ab Wintersemester 2021/22

Um das Theaterstück schreiben zu können, war ein intensiver Gruppenarbeitsprozess notwendig sowie diverse Gespräche mit aktuell Betroffenen und Beteiligten, z.B. mit ehemals in der Haasenburg in Brandenburg untergebrachten Jugendlichen oder mit Aktiven aus dem Verein „MOMO – Voice of disconnected Youth“ e.V.

Im ersten Semester des Seminars haben wir uns anhand von Literatur und Film mit der Entwicklung der
Heimerziehung in Geschichte und Gegenwart auseinandergesetzt.

Wichtige Quellen waren für uns die von Peter Martin Lampel (1928) gesammelten Erfahrungsberichte von in der Weimarer Republik in einem Fürsorgeerziehungsheim untergebrachten „Jungen in Not“, die Flugschrift „Gefesselte Jugend in der Fürsorgeerziehung“ der Internationalen Arbeiterhilfe (1929) und
die Schilderungen der Anfang der 2000er Jahre in den Heimen der Haasenburg GmbH untergebrachten Jugendlichen („Dressur zur Mündigkeit?“, (Degener et al. 2020)), Fernsehspiele bzw. Filme „Bambule“ (Drehbuch: Ulrike Meinhof 1970), „Freistatt“ (Regie: Marc Brummund 2015) und „Systemsprenger“ (Regie: Nora Fingscheidt 2019), sowie das Theaterstück „Revolte im Erziehungshaus“ (Peter Martin Lampel) von 1928.

Lampels Theaterstück machte die Heimrevolten der Weimarer Republik zum Thema und war, entgegen unserer Erwartungen, Inspiration dafür ein eigenes Theaterstück zu schreiben, um die Kontinuitäten und Brüche im Konflikt um die Heimerziehung zu bearbeiten. Zum Abschluss des ersten Semesters machten wir ein gemeinsames Theaterwochenende, bei dem wir das erste Mal in die schauspielerische Praxis einstiegen und Standbilder und Szenen ausprobiert haben.

Im zweiten Semester stand die Erstellung und das Schreiben des Stückes im Mittelpunkt. Wir haben die Akte, die Figuren und die Handlungen entwickelt und auch dieses Semester wurde abgerundet von einem gemeinsamen Theaterworkshop, bei dem sich die ersten Schauspieler*innen herauskristallisierten.

Das dritte und abschließende Semester diente der konkreten Vorbereitung und Umsetzung des Stückes: Rollen wurden festgelegt, es wurde begonnen zu proben, Kostüme und Requisiten wurden besorgt, Plakate und Postkarten vorbereitet. Anfang Januar 2023 finalisierten wir das Stück während einer intensiven
Probenwoche.

Endnoten

[1] Vgl. Kunstreich, Timm (2014): Grundkurs Soziale Arbeit, Band l, S. 144f. Online: www.timm-kunstreich.de/publikationen
[2] Vgl. https://www.geschlossene-unterbringung.de/2020/07 /dressur-zur-muendigkeit/
[3] Degener, Lea et al. (2020): Dressur zur Mündigkeit? Über die Verletzung von Kinderrechten in der Heimerziehung, Beltz, S. 54
[4] Vgl. Bittscheidt, Dorothee in: Degener et al. (2020), S. 151-159
[5] Gewissen Aufschluss über die Konzeption gibt bisher eine Präsentation, die am 11.08.2021 im Jugendhilfeausschuss des Bezirks Hamburg-Nord gezeigt wurde und nach der freiheitsentziehende Maßnahmen nach § 1631 b BGB explizit vorgesehen sind (vgl. S. 16 in der Präsentation, die über https://sitzungsdienst-hamburg-nord.hamburg.de/bi/allris.net.asp abrufbar ist).
[6] https://www.soal.de/aktuelles/soal-diskussionspapier-zur-geplanten-einrichtung-klotzenmoorstieg
[7] https://www.geschlossene-unterbringung.de/wp-content/uploads/2022/03/Stellungnahme_Klotzenmoorstieg_AKS_Aktionsbuendnis_mit_Unterstuetzern_10.03.2022_.pdf